LOUISE MARCH – G. GURDJIEFF – EIN HINWEIS AUF SEIN LEBEN UND WERK

Am 29. Oktober 1949 starb in Paris ein höchst außerordentlicher Mann: G. Gurdjieff, betrauert von Freunden und Schülern aus vielen Ländern. Er starb, während sein erstes Buch in vier Ländern im Druck war – ein Gleichnis gewissermaßen seiner immergewahrten und gewollten Anonymität der größeren Öffentlichkeit gegenüber, trotzdem sein Aktionsradius von Tibet über Europa bis nach Amerika reichte. Hinterlassen hat er derWelt ein vierfaches Gut:

 

1. Seine S c h r i f t e n

2. S e i n e M u s i k

3. S e i n e „B e w e g u n g e n“ u n d T ä n z e

4. E i n e w o h l v o r b e r e i t e t e Ü b e r l i e f e r u n g d u r c h s e i n e

ä l t e r e n S c h ü l e r.

 

Mir, als dem einzig Lebenden seiner deutschsprachigen Anhänger und Übersetzer seiner Schriften ins Deutsche, fällt die Aufgabe zu, für alle meine Brüder gleicher Zunge, wennauch sehr unzulänglich, so doch auf Gurdjieff hinzuweisen.

 

Gurdjieff wurde 1872 in der Gegend des Ararats geboren, von alters her ein Knoten- und Kreuzungspunkt vieler Völker und Kulturen. Seine Vorfahren stammten von Griechenaus Cäsarea ab, deren Geschichte weit vor Christi zurückreicht. Er wuchs in einerpatriachallschen Familie unter geradezu biblischen Lebensumständen auf. In der zweitenSerie seiner Schriften „Begegnungen mit hervorragenden Menschen“, schildert er seinen Vater, einen letzten Barden und ursprünglichen Denker, seinen ersten Lehrer, den Dechanten der militärischen Kathedrale in Kars, der seinen fähigen Schüler für die Laufbahn eines Priesters und Arztes zugleich bestimmte, das heißt, zur Heilung desganzen Menschen. Er selber hatte großes Interesse für alle Wissenschaften und zeigtegleichzeitig große Geschicklichkeit mit den Händen, weshalb er sich in vielen Gewerbenversuchte. Aber einige Jugenderlebnisse in der seltsamen kaukasischen Umgebung, fürdie er keine Erklärung in der Wissenschaft fand, ließen ihn früh über den Sinn des Lebensnachdenken und an dem zweifeln, was die Leute sagen. So kam es dahin, daß er sichnoch jung auf die S u c h e nach w a h r e m f ü r a l l e Z e i t e n u n d f ü r a l l e M e n s c h e n gültigem Wissen aufmacht. Nachdem er verschiedene mittelalterliche Ruinen und altarmenischeLiteratur studiert hatte, kam er zu der Überzeugung, daß die Menschen früherer Zeiten einWissen besessen hatten, das im Laufe der Zeit verlorengegangen war. Im Verein miteinigen jungen Freunden machte er sich auf die Suche nach Überresten oder Spurendieses alten Wissens auf. Sie nannten sich „Wahrheitssucher“ und kamen in abgelegeneKlöster, die uralte Traditionen bewahrt hatten, trafen Derwische, heilige Männer und Mitglieder der verschiedensten religiösen Bruderschaften. Später gesellten sich Leute ausverschiedenen Wissenszweigen und mit größeren materiellen Hilfsmitteln zu ihnen, einArchäologe, ein Geologe, ein Ingenieur, ein Arzt, Sprachwissenschaftler usw. Einigen vondiesen hat Gurdjieff auch in der zweiten Serie seiner Schriften ein Denkmal gesetzt. IhreReisen ginge nach Persien, Turkestan, Tibet, Indien, der Wüste Gobi, Ägypten. Gerüchte,daß Gurdjieff in Tibet eine führende Rolle im englisch-tibetanischen Krieg gespielt habensoll, sind aus dieser Zeit erhalten geblieben. Gelegentlich tauchte er zu Hause auf undverschwand wieder, betrieb auch zwischendurch verschiedene Geschäfte und Gewerbe, um sich seinen Unterhalt zu verdienen.

 

Seine Spuren werden für uns erst um 1912 herum deutlich. Damals war er an dievierzig, lebte in St. Petersburg und hatte Schüler um sich, die von seiner ungewöhnlichen Originalität und Echtheit angezogen waren. Sie empfanden alle etwas von dem, was einesmeiner Kinder so zum Ausdruck brachte: „E r s i e h t a n d e r s a u s u n d e r i s t a n d e r s a l s a l l e anderen L e u t e.“

 

Damals lernte ihn der Schriftsteller D. P. Ouspensky kennen, der durch seine Erforschung der vierten Dimension auf psychologisch-philosophischem Gebietbahnbrechend geworden ist. Er fand in ihm alles, was er, der selbst gerade aus Indienzurückgekehrt war, an verschiedenen Orten im Osten vergeblich gesucht hatte. In seinem letzten Buch „A u f d e r S u c h e n a c h d e m W u n d e r b a r e n, F r a g m e n t e e i n e u n b e k a n n t e n L e h r e“ (Deutsch im Verlag „Der Palme“, Innsbruck) schildert Ouspensky sein Zusammentreffen mit Gurdjieff und gibt wörtlich viele seiner Gespräche mit Gurdjieff wieder, oder genauer gesagt, Gurdjieffs gewichtige Antworten auf die prägnanten Fragen Ouspenskys sowie andererSchüler.

 

Gurdjieff kannte sich auf allen Gebieten aus und brachte Licht in die dunkelsten Ecken. Besonders gab er eine neue Auffassung vom Sinn und Zweck des menschlichen Daseins und dem, was Evolution wirklich ist. Er ging über alles bekannteUniversitätswissen hinaus, auch über das, was gewöhnlich Religion genannt wird; erkonnte helfen, wo die üblichen Ärzte und Seelsorger versagten. Aber er hielt keineVorlesungen, er drängte sein Wissen niemandem auf, im Gegenteil, es war schwer, es ausihm herauszuholen und man mußte wirklich ernsthaft suchen, wirklich es sich etwaskosten lassen, w i r k l i c h m e h r a l s W o r t e w o l l e n. Bei ihm hatte alles Handund Fuß, das große Ferne kam einem nahe und wurde deutlich wie die eigene Hand, dasnahe Kleine wurde millionenfach vergrößert und deshalb erkennbar. Alles übrige Denk-und Glaubens“gut“ des modernen Menschen ?atterte wie Motten am Licht, wenn es in das Blickfeld Gurdjieffs kam. Dafür gab er zu ahnen, in seiner Sprache „zu kosten“, w a s „d e r W e g“, „d i e W a h r h e i t“, „d a s L e b e n“ i n W i r k l i c h k e i t i s t.

 

Damals war er im Begriff, ein großes Institut zu gründen, „D a s I n s t i t u t f ü r d i e h a r m o n i s c h e E n t w i c k l u n g d e s M e n s c h e n“, in dem der physische, emotionelle und denkerische Teil des Menschen auf gleiche Weise erzogenund Aufmerksamkeit und Wille zur Erkenntnis und Lenkung seiner selbst herangebildetwerden soll. Er hatte schon viele wissenschaftliche Apparate aus Deutschland kommenlassen, als die politischen Ereignisse alles vereitelten; der erste europäische Krieg brachaus.

 

So unglaublich es klingen mag, auch ein solches enormes Ereignis brachte Gurdjieff nicht von seinem Vorhaben ab; das geplante Institut wurde ein wanderndesInstitut, teils mit den gleichen, teils mit verschiedenen Leuten. Dabei machten sie alleSchwierigkeiten der Millionen von Heimatlosen dieses unseligen zwanzigsten Jahrhunderts durch. Gurdjieff wie die Schüler kämpften um das tägliche Brot, aber nicht nur in dem einen Sinn, in dem dies gewöhnlich verstanden wird, sondern sie arbeitetenauch. Arbeit bei ihm und in seinem Kreis bedeutet: A r b e i t a n s i c h s e l b s t , A r b e i t z u r E r k e n n t n i s s e i n e r s e l b s t u n d z u r S e l b s t v e r v o l l k o m m n u n g. „Je größer die Schwierigkeiten, um so größer die Möglichkeit zu produktiver Arbeit, vorausgesetzt, daß man b e w u ß t arbeitet.“ Für eine Weile schien es, daß das Institut im Kaukasus, dann in Ti?is seßhaft werden könnte,aber die politischen Ereignisse vereitelten es auch dort nach kurzer Zeit. Gurdjieffs Takt, Menschenkenntnis und ganz ungewöhnlicher allgemeiner Umsicht war es zu verdanken,daß die verschiedenen feindlichen Parteien ihn und seine Gruppe unbehelligt ließen, ja eskam sogar dazu, daß die Weiße und Rote Armee ihn „unparteiisch“ genug fanden, so daßzum Beispiel beide ihm eine schriftliche Erlaubnis gaben, Waffen tragen zu dürfen.

 

Das wandernde Institut gelangte schließlich nach fast unüberwindlichenSchwierigkeiten nach Konstantinopel. Alfons Paquet, der Frankfurter Schriftsteller, traf ihndort 1921, am Tag vor seiner Rückkehr nach Deutschland, und sah eine Vorführung dersakralen Tänze von Gurdjieffs Gruppen. Es ist erstaunlich, wie viele Ahnungen er an jenem einen Abend von der Universalität von Gurdjieffs Lehre gewann.* Nach einem fehlgeschlagenen Versuch, das Institut in Hellerau zu eröffnen, und Gurdjieffs Weigerung, es in London zu tun, kam es schließlich 1922 dazu, daß es in Fontainebleau imhistorischen Château du Prieuré eine – wie es schien – bleibende Behausung fand. Eshatte Schüler aus aller Herren Länder, vorwiegend jedoch Russen und Engländer. Das große Haus und der große Garten und Wald gaben mehr als genug Gelegenheit zupraktischer Arbeit. Es wurde gebaut, gefarmt, studiert, gewoben, gemalt und in dem auseiner Zeppelinhülle eigens dafür errichteten „Study House“ wurden bis tief in die Nacht „die Bewegungen“ und heiligen Tänze geübt, psychologische Übungen gemacht und es gabGurdjieff seine auf Fragen gegebene Antworten. Eine Vorführung im Theater der Champs Elysées ließ die Welt sehen, was Gurdjieff und sein Kreis leisteten. 1924 ging er mit 40 Schülern seines Instituts nach Amerika und gab dort große Vorführungen in Carnegie Hall, New York, Boston, Chicago und anderen Städten. Diese Vorführungen von Tempeltänzenund psychologischen Phänomenen erregten größtes Aufsehen. Damals wollte er in Amerika und in verschiedenen anderen Ländern Zweigstellen des Instituts für die harmonische Entwicklung des Menschen gründen.

 

* Siehe Alfons Paquet, Delphische Wanderung, Seite 218 ff.

 

Wiederum unterbrach das Schicksal seine Pläne und wiederum wurde dadurch nur die Form der Mittel, seine Lehre an andere weiterzugeben, verändert. Kurz nach seiner Rückkehr nach Frankreich erlitt Gurdjieff eine sehr schweren Autounfall, der seinem Lebenfast ein Ende machte. Während er wochenlang im Bett lag und mit großer innerer Anstrengung sein Bewußtsein wiedererkämpfte, erkannte er, wieviel er noch zu tun undwie wenig Zeit er noch hatte. Damals eben beschloß er zu schreiben. Es war sein eigener Entschluß, seine ihm von sich selbst diktierte Aufgabe, sein freiwillig auf sich genommenes Kreuz. Er schloß sein Institut für die harmonische Entwicklung des Menschen, schickteseine Schüler nach Hause, schloß sich selbst von allem ab und begann zu schreiben. Dervon ihm gewählte Rhythmus seines Tages blieb überall derselbe; alle nur mögliche Kraftund Zeit verwandte er auf das Schreiben. Davon wich er nicht ab, ganz gleich, was dieäußeren Umstände waren er schrieb auch in der Eisenbahn oder auf dem Schiff. Meistens saß er im Café de la Paix in Paris, oder in einem kleinen Café in Fontainebleau, oder wenn er für kurz nach New York kam, bei Childs, und schrieb. Der Lärm derredenden Menschen und das Klappern des Geschirrs drangen nicht an sein Ohr – ja selbst Besucher, deren viele kamen, mußten warten, bis er sich ihnen zuwandte, und darüberkonnten ein und zwei und drei Stunden vergehen. Manche spürten in der Nähe des seltsamen Meteors den Gegensatz zwischen der geräuschvollen, hastenden, trügerischenäußeren Welt und der Ruhe, Sicherheit und inneren Fülle dessen, der da saß und schrieb.

 

Ziemlich am Anfang meiner Arbeit, als ich noch verwundert war, daß Gurdjieff nichtsvon dem suchte, was die Annehmlichkeiten und das Streben aller anderen Menschenausmacht, setzte er sich einmal, als er sichtlich ermüdet aus dem Café zurückkam, neben mich auf die Terrasse mit dem schönen Blick auf dem historischen Garten der Prieuré, wo ich an der Übersetzung arbeitete. „Warum arbeiten Sie nicht auch hier, mit dem Blick aufdie Rosen, den Gold?schteich und die beschnittene Platanenallee, in so guter Luft?“ „Ich arbeite immer nur in Cafés, Tanzlokalen und ähnlichen Stätten, wo ich die Menschen sehe, wie sie sind, wo ich die sehe, die am meisten betrunken sind, amanormalsten. Bei ihrem Anblick kann ich den Impuls der Liebe in mir erzeugen. Und aus dem heraus schreibe ich meine Bücher.“

 

Eine Art Erholung war für ihn das Kochen. Er nannte sich „Dr. Kulinari“ und konntedie verschiedensten Gerichte aller asiatischen Stämme zubereiten, so wie sie durch die Jahrhunderte überliefert worden sind, und viele eigene Kombinationen dazu, die nicht nurden uns immer mehr abhanden kommen den Geschmackssinn beleben, sonder den Menschen auch zu einem gewissen Bewußtwerden der in ihm vor sich gehendenVerdauungsvorgänge führen.

 

Acht oder neun Jahre verwandte er zum Schreiben und es entstanden drei Serienvon Büchern, für einen einzigen Menschen von ungewöhnlicher Fülle, Originalität undVielfalt der Bedeutung. Die zweite Serie, die zugleich ein Reisebuch von unvergleichlicher Schönheit ist, ging ihm so leicht wie seine Musik vonstatten, die an die 5000 Stücke zählt. Die Hauptanstrengung für Gurdjieff war die erste Serie seiner Schriften, betitelt; „E i n e o b j e k t i v e – u n p a r t e i i s c h e K r i t i k d e s L e b e n s d e s M e n s c h e n“ o d e r „B e e l z e b u b s E r z ä h l u n g e n f ü r s e i n en E n k e l“

 

Manche Kapitel der ersten Serie, vor allem das Kapitel „Gedankenerwachen“,zuerst „Warnung“ genannt, hat er sieben- und dieses sogar zwölfmal umgearbeitet. Wasfür eine Mühe, bis alle Themen seines Werkes, das keine Frage unberührt läßt, in dieser Ouvertüre angeschlagen und verbunden waren. Bei den Änderungen war deutlich zuerkennen, daß er „den Knochen tiefer vergraben wollte“, das heißt, nichts auf billige Weisegeben wollte. Dies war unbedingt nötig zur Erreichung des sich von ihm gesteckten Zieles. Es kann keinem etwas geschenkt werden; auch das Beste, was uns gegeben wird, kann nur dann unser eigen genannt werden, wenn wir es selbst erarbeiten. Auf keinem Fall wollte er „neues Wissen“ geben, was sich leicht in Worten sagen läßt, sondern etwas im W e s e n des Menschen ändern, öffnen, entfalten, was ihn langsam zur Erschaffungseiner eigenen inneren Welt führen und ihm V e r s t e h e n geben sollte. Er, der die Menschen mit einem Blick erkannte, wußte, daß dieser Vorgang eine ungeheure Operation bedeutet und die erste Serie hatte eben die Aufgabe, aufzuräumen „mit den im Denken und Fühlen des Lesers seit Jahrhunderteneingewurzelten Vorstellungen und Anschauungen über alles in der Welt angeblichExistierende“, um Platz zu schaffen zur Aufnahme von etwas Neuem und Wirklichem.

 

Damit komme ich auf das Hauptziel von Gurdjieffs Schriften zu sprechen und vorallem zu seiner ersten Serie: an Stelle eines persönlichen Lehrers gibt sie alles, was wir indiesem zwanzigsten Jahrhundert brauchen, um uns eine wahrhafte und unveränderlicheinnere Welt erwerben zu können. Dies kann aber nur geschehen, wenn der Leser langsamlernt, daß seine Mitarbeit, sein sich-wundern, Vergleichen, Gegenüber-stellen, Fragen-lernen, und auf Antwort-warten, ebenso nötig ist, wie die Hilfe des Buches. Durch unserefalsche Erziehung sind die uns verliehenen Kräfte des Denkens, Fühlens und Emp?ndensganz vermechanisiert und einseitig ausgebildet; erst recht, wenn wir sogenannte gebildeteMenschen sind. Der Kern in uns, das Samenkorn, das sich nach einer Entfaltung und Kontinuierlichkeit sehnt, liegt deshalb erstickt und eingezwängt zwischen den falschenTätigkeiten unserer vielen vermeintlichen „Ichs“.

 

Während der acht Jahre des Schreibens ließ Gurdjieff täglich vor oder nach Tisch, im kleinen Kreis oder für viele Gäste das eine oder andere Kapitel in der einen oderanderen Sprache vorlesen. Gurdjieff beobachtete die Zuhörer und erkannte an ihnen den Grad der Vollendung des von ihm neu geschrieben wie auch die Exaktheit derÜbersetzung. Oft wählte er Kapitel, die dem einen oder anderen Menschentyp mehrentsprachen, oder aber das Kapitel über die Nation des Betreffenden. Neue Gäste warenerstaunt, daß er ein kleines Wort oder eine Satzverdrehung so wichtig nehmen konnte, die Übersetzer dagegen kannten Gurdjieff schon als L e h r e r d e r E x a k t h e i t. Für unsgeschah die Übersetzung nicht eigentlich um der Übersetzung willen, sondern war unsere Schulung, die uns aus unseren subjektiven Vorstellungen und Ansichten herausschälteund mit der Schaffung einer neuen exakten Sprache zu einem Verstehen brachte, das wir am Anfang nicht einmal hätten ahnen können. Vor allem wurde in uns allmählich die Fähigkeit des „Sich-leer-machen-könnens“, des „Hören-könnens“ herangebildet. Nur woPlatz ist, kann etwas neues Platz ?nden, Nun ist das ein schwierigerer Prozeß als die meisten Leute glauben wollen: d i e B e f r e i u n g v o n d e m a u t o m a t i s c h e r w o r b e n e n e n, r e i n s u b j e k t i v e n D e n k – u n d V o r s t e l l u n g s k a l e i d o s k o p und d i e E r w e r b u n g e i n e s b e w u ß t a r b e i t e n d e n, i m m e r g ü l t i g e n, o b j e k t i v e n V o r s t e l l u n g s g u t e s an seiner Stelle. Alle möglichen Anekdotenillustrieren diesen Vorgang, und wenn sie erst einmal gesammelt werden, um Gurdjieffs Lehre in seiner grandios-humorvollen Weise zu veranschaulichen, werden die Übersetzereinen guten Beitrag liefern können.

 

Aus dem Lesen um Gurdjieff erwuchsen allmählich Gruppen in denverschiedensten Hauptstädten der Welt, wobei die Zuhörer, jeder für sich, die erstaunliche Tatsache feststellten, daß seine erste Serie, dieses kosmische Märchen, wirklicher als alle Märchen, mit einer sicherlich außerirdischen Wissensquelle, die ihnen unerläßlich nötigeHilfe in der Erkenntnis ihrer selbst und aller Dinge in dieser Welt gibt. Wenn sie eine Fragehatten, auf die sie keine Antwort ?nden konnten, eine Schwierigkeit, die sie nichtannehmen oder überwinden konnten, so brachte ihnen dieses Buch die nötige Hilfe. Dabeikonnte man im Laufe der Jahre bemerken, daß ihr äußerer Mensch, ihr sichWichtignehmen, ihr mit tausend kleinen täglichen Aufregungen und Begeisterungengefülltes Dasein gewöhnlich stiller, ruhiger und ernster wurde, und ihr innerer Mensch, derin fast keinem Menschen der heutigen Zeit zum Durchbruch kommen kann, anfangsgelegentlich und später häu?ger in Erscheinung trat. Man mußte nicht mit ihnen reden, aber man spürte, daß dieses Buch ihnen eine wirkliche Nahrung und Maßstab war. S e l b s t z u f r i e d e n h e i t k o n n t e n i c h t a u f t r e t e n, wenn man erkannte, wie lange es gebraucht hatte, bis man die eine oder andere Sache verstand, oder, richtiger gesagt, auf dem Wege war, zu verstehen; oder wenn man bemerkte, daß zwei Stunden des Zuhörens schon zuviel waren für unser nur auf?üchtige Beobachtungeingestelltes „Denken“ und unser immer ?atterndes oder lahmes Gefühl. Jede Seite, jedesKapitel in Gurdjieffs Schriften ließen den Zuhörer sein eigenes Unvermögen, seine eigeneUneinheitlichkeit, seine eigene Nichtigkeit erkennen und gleichzeitig verstärkten sie in ihmden Drang nach etwas Bleibendem, Sicherem, Dauerndem, erweiterten seineFragemöglichkeiten, förderten sein Forschungsvermögen und seine nachdenkenden Fähigkeiten underweckten in ihm Kräfte, die ihm zwar niemals recht, aber dafür den Geschmack dessengeben können, was ein Mensch sein könnte und sein sollte.

 

Gurdjieff sprach in den acht Jahren, in denen er die verschiedenen Serien seiner Schriften schrieb, oft von deren Veröffentlichung, ja, er fuhr sogar eigens nach Leipzig, um mir den Ort zu zeigen, wo seine Schriften gedruckt werden sollten. Damals, in den spätenzwanziger und frühen dreißiger Jahren, verstand ich das Gedrucktwerden hauptsächlich indem Sinne, daß es in mir gedruckt werden müsse, nämlich, um in mir jenen Menschen zuerwecken und wach und tätig zu erhalten, der das Verlangen in meiner Kindheit gewesenwar, wenn ich darüber nachsann, was es denn eigentlich bedeute, dieses „Lieben deinenNächsten wie dich selbst“. Gerade als ich nach allen möglichen Versuchen und unter Zuhilfenahme der mir bekannten Religionen, philosophischen Richtungen, Wissenschaftenund Künste endgültig die Hoffnungslosigkeit jedes wirklichen Versuches in dieser Richtungeingesehen hatte, hörte ich selber zum erstenmal ein Kapitel aus „Eine objektiv unparteiische Kritik des Lebens des Menschen“ (man konnte es damals nie selber lesen,nur hören), um ihm meine erste gesegnete schla?ose Nacht zu verdanken.

 

Anfang 1949, bei einem Besuch in New York, sagte Gurdjieff im Kreise einiger seiner älteren Schüler, daß die Zeit gekommen sei, seine Schriften zu drucken und daß es noch im gleichen Jahre geschehen müsse. Er bestimmte, daß die erste Serie, dieschwierigste, unbedingt als erste herauskommen müsse, und zwar im Taschenformat, damit jeder sie in seiner Tasche bei sich tragen könne. Gleichzeitig gab er die Erlaubnis das letzte Werk von Ouspensky, der in England und Amerika sehr bekannt und ob seinerfrüheren Bücher sehr geschätzt wird, zu veröffentlichen: „Auf der Suche nach demWunderbaren, Fragmente einer unbekannten Lehre“ ist sowohl Vorläufer als auch einerster Kommentar zu Gurdjieffs Schriften.

 

In Deutschland las ich 1929 zum erstenmal in Gegenwart von Gurdjieff einige Kapitel aus Beelzebubs Erzählungen vor. Es war im Hause von Alfons Paquet in Frankfurt. Zu der Lesung luden Paquet und ich Freunde ein; nach Gurdjieffs Weisung sollten mindestens sieben Familienväter daruntersein. Drei Stunden ununterbrochenen Lesen waren auch für die auf ihre Auffassungskraftstolzen Deutschen zuviel. Später wollte mich einer meiner Freunde enttäuschen, indem er mir sagte, nur ein Wort sei ihm von dem langen Lesen im Gedächtnis geblieben: „Kundabuffer.“ Mir schien dies genug: Kundabuffer an Stelle des echten Menschen,Täuschung an Stelle der Wahrheit, außerdem die erste und einzige Erklärung dessen, was in der Sprache der Kirche „Erbsünde“ genannt wird. Wider seinen Willen war mein Freundbeim Regnen nass geworden. In Berlin liess mich Gurdjieff als erstes das Kapitel über „Früchte alter Zivilisationen und die Blüten der modernen“ lesen, wobei mir schien, das einige der Anwesenden über das, was darin über die Er?ndungen der Deutschen gesagtwird, fast Blut schwitzten. Beim Studium der Massenpsychose, jenem Greuel, der die Entartung der der modernen Menschheit am schärfsten zeigt, nimmt Gurdjieff alleNationen untere seine Lupe, keine kann sich überlegen fühlen, alle sind in die Irregegangen.

 

Inzwischen hat das Schicksal den Deutschen sehr mitgespielt und ihnen ihreliebsten Täuschungen, die manchem selbst lieber waren als das Leben, entrissen. Als ich Mitte der dreissiger Jahre wieder ein paar Jahre lang in Deutschland lebte, berührte es mich sehr schmerzlich, zu erkennen, wie der j e d e m M e n s c h e n i n n e w o h n e n d e D r a n g n a c h e i n e m W e g w e i s e r, nach einem Lehreroder Führer, in einer ganz falschen Richtung dort arbeitete. Auch die, die nicht davonverblendet oder angesteckt waren, tappten im dunkeln und konnten nichts als einleidendes, passives Ertragen aus dieser Massenpsychose machen.

 

Gurdjieff dagegen lebte damals zurückgezogen in Paris, immer von einer Gruppean sich arbeitender Menschen umgeben, war denselben äußeren Schwierigkeitenausgesetzt wie alle anderen Menschen und machte seine grandiosen Statistiken. Ihmdiente diese größte aller bisherigen Massenpsychosen zu einer letzten Überprüfung dieser Hauptkrankheit, die der Mensch selbst, durch Schaffung der a n o r m a l e n ä u ß e r e n L e b e n s v e r h ä l t n i s s e verursacht hat, ein weder von der Natur noch von Gottgegebener Faktor. Mir scheint, daß das deutsche Volk vielleicht mehr als jedes anderedanach lechzt, in Gurdjieffs Schriften und auch in den von Ouspensky aufgezeichneten Gesprächen die Gesetze eindeutig klaraufgezeichnet zu ?nden, nach denen diese entsetzlichen, des Menschen unwürdigenletzten Jahrzehnte verliefen. Wer schuld war, der Kaiser oder Hitler, die Engländer, Russen oder Amerikaner – alle Theorien und subjektiven Deutungen werden bei ihmhinfällig. Viel nutzloses Gerede, viele nutzlose Bücher werden einfach verstummen. Wasist denn der Tod? Was wird durch ihn frei? Wozu dient es? W a s k a n n a n d i e S t e l l e v o n K r i e g u n d ä u ß e r e r G e w a l t t r e t e n? Wo fängt der Krieg an, und wo ist er immer zu Hause? In jedem Menschen und in den Beziehungen jedeseinzelnen zu den anderen. Wo kann er aufhören? Nur im einzelnen und in seinen Beziehungen zu den anderen. Hat der einzelne Mensch eine Wahl? Können wir lernen zuwählen?

 

Deswegen muß dieses Buch, das aus einem wirklichen Wissen, aus einer Gerechtigkeit und Liebe, deren Ausmaß wir nicht begreifen können, geschrieben wordenist, jetzt an die Öffentlichkeit kommen.

 

Sommer 1950

 

L o u i s e M a r c h,

 

Frankfurt am Main, Praunheim,

 

Alte Mühle 2

 

Denen, die sich ernstlich mit Gurdjieffs Schriften beschäftigen wollen, möchte ich raten, regelmäßige Vorleseabende einzurichten und sie mit nichts anderem zu verbinden, auchkeinen Diskussionen.

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