NASREDDINS MANTEL VON ARKARDIJ ROVNER

Im Kapitel „Fegefeuer“ des Buches „Beelzebub“ erwähnt Gurdjieff drei „Körper des Daseins“ (auch „Lebenskörper“): einen niederen (auch planetarischen), einen mittleren (auch „Körper Kesdjan“) und einen höheren Körper. Der niedere Körper ist uns von Anfang an gegeben. Der mittlere und der höhere Körper entstehen durch Bemühungen aus besonderen kosmischen Substanzen. Wenn man stirbt, trennt sich der mittlere Körper vom niederen. Letzterer zerfällt wieder in die Elemente und vermischt sich mit den Substanzen des Planeten. Der mittlere Daseinskörper zerfällt auch und löst sich im eigenen Element auf. Der höhere Körper, der sich vom mittleren trennt, zerfällt nicht mehr, sondern kehrt zu seinem Ursprung namens Sonne, zum Absoluten zurück.

 

Aber laut Gurdjieff interessieren sich die Leute seit einiger Zeit nicht mehr für den Körper des mittleren und höheren Daseins. Da diese uns nicht von Anfang an gegeben sind, sind sie gar nicht im menschlichen „Gepäck“ vorhanden. Der Mensch muss sie sich erst durch „freiwilliges Tun und absichtliches Leiden“ erschaffen. Anders ausgedrückt, heißt das, dass der Mensch zunächst keine Seele hat, er muss sich diese – falls er das will – erst selbst erschaffen. Jedoch lenkt diese Formulierung vom Verständnis dafür ab, dass es in Wirklichkeit um zwei Seelen geht: um den „Kesdjan Körper“ und um den höheren Körper des Daseins. Sie betont allerdings die große Idee über den Aufbau der Körper des Daseins.

 

Zusammen erinnert dies entfernt an verbreitete theosophische und anthropologische Vorstellungen vom physischen und ätherischen Astralleib des Menschen. Dort hat der Mensch diese Leiber. Man muss sie bloß anstrahlen. Vergleichbare Ideen kann man im Judentum, im Hinduismus und im Buddhismus finden.

 

Mein Ziel ist nicht der Vergleich verschiedener Theorien sondern eher praktischer Natur: ich möchte notwendige Schwerpunkte geistiger Arbeit hervorheben, wie sie im Licht der Vorstellungen und genauen Betrachtungen von Gurdjieff erscheinen. Zuerst möchte ich daran erinnern, dass sich der moderne Mensch viel stärker als der traditionsverbundene Mensch als ein willensschwaches Spielzeug seines physischen sowie sozialen Leibes erweist. Man könnte sogar sagen, dass er ganz von diesen Leibern, die nicht von ihm beherrscht sondern von unabhängigen physischen und sozialen Mechanismen gelenkt werden, aufgenommen ist. In dieser Schicht der Realität kann der Mensch nichts erschaffen. Alle seine Versuche, den auseinander gehenden Stoff seines Lebens zusammen zu nähen – den Mantel Nasreddins zu flicken – scheitern: der Mantel muss weggeworfen werden, aber ihn durch einen neuen zu ersetzen, gelingt leider niemandem.

 

Dasselbe könnte man über sogenannte Suchende nach Spiritualität, über Besucher der Seminare und Leser esoterischer Literatur sagen. Im besten Fall führen sie in ihr physisches und soziales Leben kleine Änderungen ein, beispielsweise täglich ein- oder zwei Meditationen, ein oder zwei Besuche einer esoterischen Praxis oder Gruppe, dazu noch das Lesen von Büchern und Artikel zu ihnen  interessanten Fragestellungen. Diese Anstrengungen reichen nicht dafür aus, einen Raum, der vor   Einwirkungen des physischen und sozialen Elements schützen könnte, aufzubauen. Am häufigsten führt geistige Tätigkeit und Arbeit einen Suchenden zum psychologischen Ausgleich oder zur Aufnahme von Fetzen fremder Energie, die jedoch schnell wieder durch Ritzen im eigenen Körper verloren geht. Weil ein solcher Suchender versteht, dass er für den Aufbau des höheren Körper des Daseins weder die Entschlossenheit noch die notwendigen Mittel und Voraussetzungen aufweist, setzt er sich dieses ganzheitliche Ziel erst gar nicht. Dabei könnte gerade der Aufbau höherer Leiber des Daseins der einzige Inhalt und das einzige Ziel geistiger Arbeit sein. Jahrhunderte lang war das die Aufgabe buddhistischer, christlicher, sufistischer und anderer Lehren. Heutzutage sind sporadische und träge Bemühungen oder ein kompletter Mangel an Anstrengungen bei einer zugleich grellen Vorstellungskraft zu beobachten, was einen Suchenden abhält und vom Gegenteil überzeugt.

 

Auf welche Weise kann die Aufgabe, höhere Leiber des Daseins aufzubauen, aus dem Bereich der Phantasie und des Traums in die Realität übertragen werden? Wie kann man einen festen Stoff inneren Lebens oder ein heiliges Futter weben, so dass das äußere Leben durch ein reales Fundament ausgefüllt und verschönert wird? Geht es darum eine zusätzliche Schicht zu schaffen, die harmonisch mit dem äußeren Stoff des Lebens verbunden ist? Erinnern wir uns an Nasreddins Mantel, der zwar voll von Flicken und Löchern war, dessen Futter aber aus Gold und Juwelen bestand. Aber in unserem Fall geht es noch lange nicht um Edelsteine. Es geht um eine ruhige und geheimnisvolle Arbeit, wenn man an der eigenen ganzheitlichen Schicht arbeitet. Das Futter sollte nicht kaputt, sondern ganz sein. Es darf keine Ritzen haben und nicht Fetzen hängen. Aber woher sollte die Kraft dafür kommen? Welches Abbild kann man sich zum Muster machen? Wie baut man den Plan der Arbeit auf?

 

Selber muss man Kraft dafür entwickeln. Es gilt eine Quelle für die Kraft zu finden und Ritzen zu schließen. Die Aufmerksamkeit hilft einem, zur Quelle hin zu finden. Natürlich sollte sie im eigenen Inneren gesucht werden. Der Mensch stiehlt nicht dem Lehrer die Kraft, sondern umgekehrt ist es: er gibt ihm einen Teil seiner Kraft für die endlos große Arbeit des Lehrers. Die Vorstellung vom eigenen Antlitz und der Arbeitsplan werden nur im Raum des Lehrers geschaffen. In diesem Raum wird auch die Arbeit geleistet. Diese Tätigkeit kann vom Himmel gesegnet werden. Dann werden Gold und Edelsteine mit allen ihren übernatürlichen Farben aufleuchten. Doch kann die Arbeit auch ohne Auszeichnung bleiben. Darauf sollte man gefasst sein. So wie der Lehrer in keinem Fall diese Entscheidung trifft, so leistet er auch nicht die Arbeit. Der Lehrer kann einem zur Vollbringung einer Heldentat bloß den Rat geben, welche Arten von Futter in der geistigen Welt existieren. Es gibt ein Futter, das aus der heiligen Stille aus Gebet, Dankbarkeit und Gedächtnis an sich besteht. Es gibt Futter, die „schöpferisches Chaos“ oder „magischer Wille“ heißen. Es gibt auch andere Arten davon. Ähnlich werden auch die Wege zum Erschaffen dieser heiligen Futter genannt.

 

Einige erwähnen in diesem Zusammenhang Gott, andere Gottes Königreich, wieder andere die kosmische Schöpfung, wieder andere „Gold“ und wieder andere wundervollen Feuervogel. Gurdjieff bezeichnete es als „höchsten Leib des Daseins“. Viele reden davon, aber bloß wenige entschließen sich dazu, diesen zu schaffen.

 

Solche Arten von Futter können nicht einfach in den alten Mantel von Nasreddin eingenäht werden – der abgenutzte Stoff würde sie nicht halten. Man braucht ein Zwischenfutter, das „mittlerer Leib des Daseins“ oder „Körper Kesdjan“ genannt wird. Der zur Heldentat Entschlossene stellt es selbst in einer schweren Arbeit her. Es wird parallel zum „höchsten Leib des Daseins“ aus der Substanz von Aufmerksamkeit geschaffen, indem man mit dieser reinen Aufmerksamkeit seinen physischen Körper füllt. Der zum Erschaffen Entschlossene erhält vom Lehrer Antrieb und Motivation, doch muss er die Arbeit selbständig und geheim machen.

 

Wem ist es nicht empfohlen, solch eine Arbeit zu übernehmen? Vor allem jenen, die jeden ihrer Schritte mit dem Lehrer absprechen möchten, die darauf hoffen, alle Hinweise nicht aus der Tätigkeit selber ableiten zu müssen, sondern diese vom Lehrer zu erhalten. Auch Leute, die daran gewohnt sind, mehr zu fragen als zu tun, sollten diese Arbeit meiden. Ebenso jene, die von der Arbeit ihren Freunden erzählen und jenen, die den Feuervogel betrügen wollen sowie denen, die nicht bereit sind, großzügig abzugeben – für Senkrechtes mit Waagerechtem zu bezahlen. Will man bloß mit ernsten Dingen spielen ohne Strafe zu fürchten, sollte man lieber auf diese Absicht verzichten – das ist ein gefährliches Spiel.

 

Es bleiben wenige, die zur Einsamkeit und zur Arbeit bereit sind. Sie sind aufmerksam auf jedes weise Wort, das während der Arbeit entsteht. Solche bekommen Verständnis und Hilfe.

 

übersetzt von Maria Mucke

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