GURDJIEFFS BIOGRAFIE

George Iwanowitsch Gurdjieff gehört sicherlich zu den bemerkenswertesten Persönlichkeiten, die jemals im Westen aufgetaucht sind. Jeder, der etwas Zeit mit ihm verbrachte, war beeindruckt von der außergewöhnlichen Ausstrahlung dieses Mannes. Er ließ keine Konventionen gelten und setzte sich oft über alle Regeln des guten Benehmens hinweg, um den Menschen ihre Ignoranz und ihren Egoismus vorzuhalten. Er hatte ein hohes Ziel, das alles andere bis zur Bedeutungslosigkeit relativierte. Und dennoch – er war fähig ein Gefühl der Heiligkeit hervorzurufen, eine unerträgliche Nostalgie zu hinterlassen, eine Ahnung davon, dass es dem Menschen möglich ist, eine höhere Stufe des Daseins zu erreichen. Für viele war die Begegnung mit Gurdjieff der Höhepunkt ihres Lebens.

 

Gurdjieff war das älteste Kind seines griechischen Vaters und seiner armenischen Mutter. Er hatte fünf Geschwister, einen Bruder und vier Schwestern, wovon die Älteste schon in ihrer Jugend verstarb. Sein offizieller Geburtstag, laut seinem Reisepass, ist der 28. Dezember 1877. Viele, die sich intensiver mit dem Leben Gurdjieffs befasst haben, halten aber das Jahr 1866 für wahrscheinlicher. Gurdjieff selbst machte Andeutungen, dass das Datum im Reisepass nicht stimmt und er viel älter sei.

 

Die Familie Gurdjieff lebte auf damals russischem Gebiet, in der Stadt Alexandropol, dem heutigen Gumri in Armenien. Seit Jahrtausenden ist diese Region am Kaukasus ein Schmelztiegel der Völker gewesen. Europäische, slawische, römische, mongolische, persische, türkische und noch ältere Kulturen strömten in dieses Gebiet, hinterließen ihre Spuren und zogen sich wieder zurück. Mitten hinein in den Zusammenfluss der Impulse und Einflüsse wurde Gurdjieff geboren.

 

Auch aus seiner Familie bekam der junge Gurdjieff ungewöhnliche Impulse. Seine Großmutter mütterlicherseits war eine berühmte Heilerin und Hebamme. Ihr Ruf war so gut, dass Leute mit den verschiedensten Krankheiten aus dem gesamten transkaukasischen Gebiet zu ihr kamen, um sich von ihr helfen zu lassen. Zeit seines Lebens sprach er von ihr nur mit Hochachtung und betonte den Einfluss, den sie auf ihn hatte. Sein Vater war ein weithin bekannter Ashok oder Barde, ein Geschichtenerzähler und Sänger, der Legenden aus uralter Zeit, teilweise aus assyrischer und sumerischer Tradition, vortrug und lebendig erhielt.

 

Wahrscheinlich waren es diese Geschichten, die Gurdjieff erstmals an die Existenz eines verborgenen Impulses denken ließen, der, normalerweise unbemerkt, alle Menschengenerationen durchzieht und aneinander bindet. Später in seinem Leben machte er die Entdeckung, dass die archäologische Ausgrabung und Übersetzung alter Keilschriften bis ins winzigste Detail die Wiedergabe geschichtlicher Fakten in den Gedichten seines Vaters bestätigten. Mit anderen Worten: Es gibt eine völlig unvermutete mündliche Form der Geschichtsüberlieferung, die genauso präzise und mindestens ebenso dauerhaft ist, wie jegliche andere Methode der Geschichtsaufzeichnung.

 

Schon in jungen Jahren ließ sich Gurdjieff von der Idee fesseln, dass dem menschlichen Leben Sinn und Ziel innewohnen, von dem die unaufhörlich dahin rollenden Generationen von Menschen kaum jemals etwas ahnen. Er gewann die Überzeugung, dass der Mensch in früheren Epochen im Besitz positiver Erkenntnis solcher Dinge gewesen sei, und dass dieses Wissen irgendwie und an irgendeinem Ort noch existieren könnte. Der Kontakt mit durchziehenden Zigeunern, die aus den Karpaten kamen und von denen er später sagte, dass sie sehen konnten und über ungewöhnliches Wissen und Fähigkeiten verfügten, bestärkte ihn darin.

 

Später begann Gurdjieff mit einigen Gleichgesinnten eine jahrzehntelange Suche nach Spuren dieses Wissens. Seine »Gemeinschaft der Wahrheitssucher« unternahm, einzeln und in Gruppen, Reisen zu entlegenen Orten, wo sie Überbleibsel dieses alten Wissens vermuteten. Die Mitglieder trafen sich in mehrjährigen Abständen, um ihre Ergebnisse zu vergleichen. Ägypten, Persien, Turkestan, Tibet, Indien und der Ferne Osten gehörten zu ihrem Forschungsgebiet. Einige seiner Freunde starben auf diesen Reisen oder verschwanden. Einige blieben bei Bruderschaften, die sie in den entlegensten Ecken der Welt aufgespürt hatten. Gurdjieff und einige andere nahmen Kontakt mit einer Gruppierung auf, die sie für im höchsten Grade bedeutsam hielten, und unterzogen sich einer langen und entbehrungsreichen Ausbildung.

 

Diese Zeitperiode scheint mit dem Jahre 1908 beendet zu sein, und nichts in seinem Leben liefert Hinweise auf seine Aktivitäten zwischen 1908 und seinem Auftauchen in Moskau und St. Petersburg im Jahre 1913. Dort übernahm er die Rolle eines Lehrers und versammelte eine Gruppe um sich, zu der auch der russische Schriftsteller und PhilosophP. D. Ouspensky gehörte.

 

1917 musst er aufgrund der russischen Revolution und des daraus resultierenden Bürgerkrieges Russland fluchtartig verlassen und zog mit einer Schar treuer Schüler zuerst in den Kaukasus und dann weiter nach Istanbul. Von dort aus ging die Reise über Deutschland nach Frankreich. Während dieser Zeit schlossen sich ihm zwei wichtige Personen an, Jeane de Salzmann und Thomas de HartmannJeane de Salzmann wurde seine wichtigste Ausbilderin für die „heiligen Tänze“ oder später auch „Movements“ genannt. Thomas de Hartmann war ein ausgebildeter Musiker vom Hofe des Zaren und mit seiner Hilfe konnte Gurdjieff hunderte von Musikstücken zu Papier bringen, die er auf seinen langen Reisen kennengelernt hatte.

 

1922 gelang es ihm günstig ein Chateau zu erwerben, die Prieure de Avon in Fontainbleau. Er gründete dort sein „Institut für die harmonische Entwicklung des Menschen“. Innerhalb kurzer Zeit konnte er, besonders durch die Hilfe von P.D. Ouspensky, eine große Anzahl Menschen, zumeist Engländer, für seine Arbeit interessieren. Diese stammten vorwiegend aus der gebildeten Mittel- und Oberschicht. Einer dieser Menschen war A.R. Orage, den G.B. Shaw als den „brillantesten Redakteur der letzten hundert Jahre“ und T.S. Elliot als die „feinste kritische Intelligenz unsere Tage“ bezeichnete. Nach einer kurzen Ausbildungzeit in der Prieure schickte Gurdjieff Orage als seinen Stellvertreter in die USA, um dort „den Boden vorzubereiten.“ Orage gelang es, durch seine kritische Intelligenz und Integrität, eine Vielzahl junger Amerikaner für Gurdjieffs Arbeit zu interessieren. Im Frühjahr 1924 kam Gurdjieff dann selber in die USA, mit dem Ziel auch dort sein Institut zu etablieren und seine finanzielle Situation zu festigen. Im Juni kehrte er nach Frankreich zurück und ließ Orage als seinen dauerhaften Stellvertreter für die USA zurück

 

Im Sommer 1924 fuhr Gurdjieff, als er einem Hund ausweichen wollte, mit seinem Auto gegen einen Baum und entkam nur knapp dem Tode. Als er sich von seinen Verletzungen zu erholen begann, stand er einer Situation gegenüber, die es ihm unmöglich machte, das Institut in der geplanten Form aufrecht zu erhalten. Seine Gesundheit war zerrüttet, er hatte kein Geld mehr und keiner seiner Freunde oder Anhänger konnte ihn ausreichend finanziell unterstützen. Er fasste den Entschluss das Institut formell aufzulösen und seine Arbeit in eine schriftliche Form zu bringen, um der Nachwelt sein Wissen über den Menschen, seine Natur und Bestimmung, zu übermitteln. Die Periode als Autor begann am 1. Januar 1925, und dauerte an bis zum Mai 1935, als er das Schreiben aufgab und seine Pläne erneut änderte. Während seiner Zeit als Autor bekam er unschätzbare Hilfe von Orage, der die kongeniale Übersetzung seiner ersten beiden Werke ins Englische übernahm. Orage betrachtete Gurdjieffs Hauptwerk, „Beelzebubs Erzählungen“, als einWerk objektiver Kunst, vergleichbar dem „Mahabharata.“

 

Mit der Weltwirtschaftskrise von 1929 erledigten sich Gurdjieffs Hoffnungen endgültig, die verfahrene finanzielle Situation aus eigener Kraft zu meistern. Ein geplanter Antiquitätenhandel im großen Stil, in den er viel Geld gesteckt hat, platzte und er verlor seine letzten Reserven. Verzweifelt versuchte er soviel Geld wie möglich von seinen amerikanischen Anhängern zu bekommen. Das führte zu Zweifeln an seinen Motiven und zu einer Entfremdung von Orage und anderen führenden Schülern. 1933 musste er die Prieure an seine Bank abtreten. 1934 starb überraschend A.R. Orage und Gurdjieff war tief betroffen. Anfang 1935 hoffte er auf eine große Spende eines reichen, amerikanischen Senators, doch kurz vor dem Treffen kam dieser bei einem Flugzeugabsturz ums Leben. Nach diesem Ereignis zog Gurdjieff sich zurück und verschwandt von der Bildfläche. Es wird vermutet, dass er nach Russland und Zentralasien reiste, um sich dort mit seinen früheren Kameraden von den „Wahrheitssuchern“ zu beraten.

 

Ende 1935 kehrte er nach Paris zurück, aber ohne dort im großen Maßstab die Arbeit weiterzuführen. Auch suchte er die Öffentlichkeit nicht mehr. Er führte ein zurückgezogenes Leben, das als Verkleidung für eine intensive Arbeit, mit Einzelpersonen und Gruppen, diente. Diese Arbeit dauerte bis zum Ende seines Lebens. In diese Periode fiel der Zweite Weltkrieg, durch den er nur wenig Gelegenheit hatte, Schüler außerhalb Frankreichs zu treffen. So richtete er seine ganze Aufmerksamkeit auf eine kleine Gruppe französischer Frauen und Männer. Das Ende des Krieges brachte einen großen Strom Schüler und Freunde aus aller Welt nach Paris. Erst jetzt wurde klar, was die Welt verloren hatte, als Gurdjieff sein Institut hatte schließen müssen. Er war sich sogar nicht einmal sicher, ob seine Bücher jemals veröffentlicht werden würden. Seine letzten Bemühungen galten dem Erscheinen von Beelzebubs Erzählungen, deren Fahnenabzüge er erst eine Woche vor seinem Tod in den Händen hielt.

 

George Iwanowitsch Gurdjieff starb am 29. Oktober 1949, im American Hospital in Paris. Seine letzte Ruhestätte fand er auf dem Friedhof von Avon, nahe der Prieure.

 

Während sich die Lehre Gurdjieffs nach seinem Tod im Westen in Form von Büchern und Gruppen relativ schnell verbreitete, hatte sie natürlich um kommunistischen Osten ihre Probleme. In den 1970er Jahren begann sie, hauptsächlich im russischen Untergrund, bei religiösen Menschen und Künstlern Fuß zu fassen. Von dort kam ein merklicher Einfluss auf das zensierte Kulturleben dieser Zeit. Heutzutage beschränkt sich das Interesse an Gurdjieff in Russland nicht nur auf seine Musik, seine Ideen und Tänze, sondern auch auf die praktische Anwendbarkeit seiner Lehren.

 

Wie sagte Gurdjieff einst:“Beginn in Russland, Ende in Russland!“

Back To Top