G.I. GURDJIEFF ZWEI FLÜSS

Auzug aus dem letzten Kapitel von „Beelzebubs Erzählungen – die „Hinzufügung“

 

Denkt, was einem Menschen geschehen könnte, der die Unvermeidlichkeit seines eigenen Todes sich deutlich vorstellen und erleben könnte! Wenn man ernst nachdenkt und wirklich tief dahinein dringen und seinen eigenen Tod erkennen würde, was könnte schrecklicher sein?

 

Angenommen, daß solche heutige Menschen, die schon endgültig alle Möglichkeiten, irgendwelche wirkliche objektive Hoffnungen für die Zukunft zu haben, verloren haben, das heißt solche, die in der Zeit ihres verantwortlichen Lebens niemals etwas „gesät“ und die folglich nichts in der Zukunft zu „ernten“ haben, die Unvermeidlichkeit ihres schnellen Todes erkennen würden, würden sie — allein bei diesem Gedanken — sich aufhängen.

Wenn wir fragen, warum uns die Fähigkeit fehlt, das Entsetzen unseres eigenen Todes zu empfinden, so wäre die Antwort wahrscheinlich, daß das, was die Menschen tatsächlich davor bewahrt, solche Entsetzen zu erleiden, eben ihr eigener „Wille“ ist. Wenn dem so ist, warum schützt uns dann nicht dieser angeblich, in uns vorhandener Wille vor allen kleinen Ängsten, die wir auf Schritt und Tritt erleben?

 

Stellt euch vor Ihr geht heute nach Hause, zieht euch aus und legt euch zu Bett, und in dem Moment, wo ihr euch mit der Decke zudeckt, springt eine Maus unter dem Kissen hervor, läuft über euren Körper und versteckt sich in den Falten der Decke. Gesteht nur offen, läuft euch nicht schon beim bloßen Gedanken an eine solche Möglichkeit ein Schauer über den ganzen Körper?  Was ist denn so Schreckliches dabei? Es ist doch nur eine gewöhnliche Hausmaus; ein ganz ungefährliches und harmloses Tierchen.

 

Nun frage ich euch, wie kann man zur Erklärung all des Gesagten den in jedem Menschen angeblich vorhandenen Willen anführen? Wie kann man in Einklang bringen, daß der Mensch vor einem zaghaften sich selbst vor allem fürchtenden Mäuschen und vor tausend anderen ähnlichen Kleinigkeiten, die ihm vielleicht sogar niemals zustoßen werden, Angst hat und daß er gleichzeitig kein Entsetzen vor der Unvermeidlichkeit seines eigenen Todes empfindet? Auf jeden Fall ist es unmöglich, einen solchen offensichtlichen Widerspruch mit dem Wirken des vielgepriesenen menschlichen Willens zu erklären.

 

Wenn dem heutigen Durchschnittsmenschen die Möglichkeit gegeben wäre, zu empfinden oder sich wenigstens mit seinen Gedanken daran zu erinnern, daß er irgendwann an einem bestimmten ihm bekannten Zeitpunkt, zum Beispiel morgen, oder in einer Woche, oder einem Monat, oder erst in einem Jahr, oder in zwei Jahren sterben würde, ganz sicher sterben würde, was würde dann, so fragt man, was von all dem, was sein Leben bisher ausgefüllt und ausgemacht hat, übrigbleiben ?

 

Alles würde für ihn seinen Sinn und seine Bedeutung verlieren. Was wäre dann schon die Auszeichnung, die er gestern für vieljährigen Dienst erhalten hat und die ihm solche Freude gemacht hat, und was gälte der von ihm erst unlängst bemerkte, vielversprechende Blick der Frau, die bis jetzt das Objekt seines beständigen und bisher ergebnislosen Begehrens war, und die Zeitung beim Morgenkaffee und der ehrerbietige Gruß des Nachbars auf der Treppe und das Theater abends und Erholung und Schlaf und alle seine Lieblingssachen — wozu nur das alles? Das alles würde nicht länger die Bedeutung haben, die man ihm bis dahin gegeben hat, sobald man weiß, daß der Tod, wenn auch erst in fünf oder zehn Jahren, einen ereilt. Kurzum, der Durchschnittsmensch kann nicht und darf nicht seinem Tod, wie man sagt ,,in-die-Augen-schauen — sonst würde er mit einem Mal sozusagen den „Boden-unter-den-Füßen“ verlieren und vor ihm würde dann in ihrer ganzen Schroffheit die Frage auftauchen: Wozu und wofür leben und leiden und plagen wir uns denn?

 

Es gibt in unserem Leben einen gewissen, sehr großen Zweck, und wir alle müssen diesem großen gemeinsamen Zweck dienen — darin liegt die ganze Bestimmung und der Sinn unseres Lebens. Alle Menschen ohne Ausnahme sind Sklaven dieses „Großen“, und alle müssen sich ihm widerspruchslos unterwerfen und müssen ohne Einschränkung und Kompromisse erfüllen, was jedem von uns vorausbestimmt ist, als Folge der auf ihn gekommenen Vererbung und des von ihm selbst erworbenen Seins.

 

Indem ich nach all dem hier Eingeschobenen zum Hauptthema der heute hier gehaltenen Vorlesung zurückkehre, will ich Eurem Gedächtnis die einige Male zur Definition des Menschen gebrauchten Ausdrücke „echter-Mensch“ und „Mensch-in-Anführungsstrichen“ zurückrufen und zum Schluß Folgendes sagen:

 

Wenn auch beide, sowohl der echte-Mensch, der schon ein persönliches „Ich“ erworben hat, als auch der Mensch-in-Anführungsstrichen, der ein solches nicht hat, Sklaven des besagten „Großen“ sind, so besteht doch der Unterschied zwischen ihnen, wie ich schon gesagt habe, darin, daß der erste, der sich seiner Sklaverei bewußt ist, die Möglichkeit erwirbt, gleichzeitig mit dem Dienst für die all-universelle Verwirklichung auch einen Teil seiner Manifestationen gemäß der Voraussicht der großen Natur für sich selbst zu dem Zweck zu verwenden, ein „unvergängliches-Sein“ zu erwerben, wogegen der zweite, der seine Sklaverei nicht erkennt, im Laufe seines ganzen Existenz-Prozesses ausschließlich nur als ein Ding dient, das, nachdem die Natur seiner nicht mehr länger bedarf, auf immer verschwindet.

 

Um das soeben von mir Gesagte verständlicher und bildhafter zu machen, wird es sehr nützlich sein, das menschliche Leben im allgemeinen mit einem großen Strom zu vergleichen, der aus verschiedenen Quellen entspringt und über die Oberfläche unseres Planeten fließt, und das Leben jedes einzelnen Menschen mit einem Tropfen Wasser, der mit unzähligen andern zusammen die Gesamtheit dieses Lebensstromes  ausmacht. Dieser Strom fließt zuerst als Ganzes durch ein verhältnismäßig ebenes Tal und an der Stelle, wo die Natur einen sogenannten „ungesetzmäßigen-Kataklysmus“ erlitten hat, teilt er sich in zwei Ströme, oder wie man auch sagt, der Strom erfährt eine „Teilung der Wasser“.

 

Dabei gerät die ganze Wassermasse des einen Stromes bald nach dem Passieren dieser Stelle in noch flachere Täler ohne sogenannte „majestätische und malerische“ Szenerien auf beiden Seiten, die sie aufhalten könnten, und mündet dann in den offenen Ozean.

 

Der zweite Strom, der sein Fließen über Stellen, die als Folgen des „ungesetzmäßigen-Kataklysmus“ entstanden sind, fortsetzt, fließt schließlich in die Spalten der Erde, die auch die Folge desselben Kataklysmus sind, und sickert ins Innere der Erde hinein.

 

Obgleich von der Teilung der Wasser an das Wasser beider Ströme selbständig weiterfließt und sich die Ströme nie mehr vereinen, kommen sie sich doch in ihrem weiteren Lauf oft so nahe, daß verschiedene Resultate, die sich aus dem Prozeß ihres Fließens ergeben, miteinander verschmelzen und sogar manchmal während großer atmosphärischer Erscheinungen, als da sind Sturm, Wind und so weiter, Wasserstäubchen und sogar einzelne Tropfen von einem Bett ins andere geraten. Das Leben jedes einzelnen Menschen, bevor er verantwortliches Alter erreicht hat, entspricht einem Tropfen Wasser im anfänglichen Fließen des noch ungetrennten Stromes, und die Stelle, wo die Scheidung der Wasser stattfindet, entspricht der Zeit, in der der Mensch mündig wird.

 

Nach dieser Trennung wird jede weitere gesetzmäßige große Bewegung des Stromes und auch die kleinen untergeordneten Bewegungen für die Verwirklichung der im voraus festgesetzten Bestimmung des ganzen Stromes gleicherweise auf die einzelnen Tropfen übertragen, insofern sich diese Tropfen in der Gesamtheit dieses Stromes befinden. Für den Tropfen selbst haben seine eigenen Umlagerungen, Richtungen und Zustände, die von der Verschiedenheit seiner Lage und durch verschiedene zufällig entstandene ihn umgebende Verhältnisse bedingt werden, und ebenso die Beschleunigung oder Verzögerung des Tempos seiner Bewegung, immer ganz zufälligen Charakter. Für die Tropfen gibt es keine Vorherbestimmung ihres persönlichen Schicksals; eine Vorherbestimmung des Schicksals gibt es nur für den ganzen Strom. Im anfänglichen Fließen des Stromes ist der Tropfen einmal hier, einmal dort, und nach einer weiteren Minute kann er überhaupt aufhören, einer zu sein, wird aus dem Fluß herausgespritzt und verdunstet.

 

Da also die Große Natur ob des unwürdigen Lebens der Menschen gezwungen war, den allgemeinen Bestand der Menschen entsprechend umzuformen, hat es sich von da an, was die allgemeine Verwirklichung alles Existierenden betrifft, so ergeben, daß das menschliche Leben im allgemeinen auf der Erde in zwei Strömen fließen muß. Und allmählich wurden von der Großen Natur entsprechende Gesetzmäßigkeiten in den Einzelheiten ihrer allgemeinen Verwirklichung vorausgesehen und festgesetzt, damit in den Wassertropfen im anfänglichen Fließen des Lebens-Stromes bei dem entsprechenden subjektiven sogenannten „Kampf-seiner-eigenen-selbst-Verneinung“ jenes „etwas“ entstehen oder nicht entstehen könne, demzufolge gewisse Eigenschaften erworben werden, durch die er an der Stelle der Trennung der Wasser dieses Lebens-Stromes in den einen oder den anderen Strom geraten kann.

 

Dieses „Etwas“, das im allgemeinen Bestand des Wassertropfens als Faktor dient, der in ihm die Eigenschaft verwirklicht, die dem einen oder andern Strom entspricht, ist im allgemeinen Bestand jedes Menschen, der verantwortliches Alter erreicht, jenes „Ich“, von dem in der heutigen Vorlesung gesprochen wurde. Der Mensch, der in seinem Bestand ein eigenes „Ich“ hat, gerät in das eine Bett des Lebens-Stromes und der, der es nicht hat, in das andere.

 

Für uns heutige Menschen liegt das Grundübel darin, daß wir — ob verschiedener von uns selbst eingerichteter Verhältnisse unserer gewöhnlichen Existenz, hauptsächlich durch die anormale sogenannte „Erziehung“ — wenn wir verantwortliches Alter erreichen, und den allgemeinen Bestand haben, der nur jenem Lebens-Strom entspricht, der schließlich in die „unteren Regionen“ mündet, in diesen Fluß geraten und es uns dahin trägt, wie er will und wohin er will; und ohne über die Folgen nachzudenken, gehen wir passiv mit und werden weiter und weiter getrieben. Solange wir passiv bleiben, können wir es nicht vermeiden, nicht nur einzig und allein als ein Mittel für die „involutionäre Konstruktion“ der Natur zu dienen, sondern sind auch im Laufe unseres ganzen weiteren Lebens sklavisch allen möglichen blinden Zufallslaunen ausgesetzt.

 

Da die Mehrzahl der hier versammelten Hörer schon die Schwelle zum verantwortlichen Alter, wie man sagt, „überschritten“ hat und offen einsieht, daß sie bisher ihr eigenes „Ich“ nicht erworben hat, und gleichzeitig nach allem, was ich hier im wesentlichen gesagt habe, sich keine besonders angenehmen Perspektiven ausmalt, werde ich, damit ihr, gerade ihr, die das einseht, nicht allzu sehr, wie man sagt, „den-Mut-sinken“ laßt, und nicht in den üblichen und den im heutigen anormalen Leben der Menschen herrschenden sogenannten „Pessimismus“ verfallt, ganz aufrichtig, ohne jeden Hintergedanken sagen, auf Grund meiner Überzeugungen, die sich durch langjährige Untersuchungen bildeten und sich auf zahlreiche ganz ungewöhnlich durchgeführte Experimente stützen, auf deren Resultaten das von mir gegründete Institut-für-die-Harmonische-Entwicklung-des-Menschen begründet ist: auch für euch ist es noch nicht zu spät. Die besagten Untersuchungen und Experimente haben mir nämlich sehr deutlich und sehr bestimmt gezeigt, daß die für alles sorgende Mutter Natur den Wesen die Möglichkeit gegeben hat, zum Kern ihres „Wesens, das heißt zu ihrem „Ich“ auch nach dem Beginn ihres verantwortlichen Alters zu gelangen. Die Voraussicht der gerechten Mutter Natur besteht in diesem Fall darin, daß sie uns die Möglichkeit gegeben hat, unter gewissen inneren und äußeren Verhältnissen aus dem einen Strom in den anderen überzugehen.

 

Von einem in den anderen Strom überzugehen, ist nicht so einfach: einfach zu wollen und hinüber zu gelangen. Dazu ist es erstens notwendig, in sich die Gegebenheiten bewußt zu kristallisieren, die in unserem allgemeinen Bestand den dauernden unauslöschlichen Impuls des Wunsches nach einem solchen Übergang hervorrufen und dann eine lange entsprechende Vorbereitung.

 

Zu diesem Übergang ist es vor allem notwendig, sich von allem, was euch als ein „Segen“ erscheint, was aber in Wirklichkeit nur sklavisch und automatisch erworbene Gewohnheiten sind, die im ersten Lebensstrom vorkommen, freizumachen. Mit anderen Worten, man muß für das einem zur Gewohnheit gewordene gewöhnliche Leben sterben. Eben von diesem Tod wird in allen Religionen gesprochen.

 

Und dasselbe wird durch den vom fernen Altertum auf uns gekommenen Spruch ausgedrückt: „Ohne-Tod-keine-Auferstehung“ — das heißt, wenn du nicht stirbst, kannst du nicht auferstehen. Der Tod, von dem hier gesprochen wird, ist nicht der Tod des Körpers, denn für einen solchen Tod braucht es keine Auferstehung. Wenn es eine Seele gibt, noch dazu eine unsterbliche, so kann sie auf eine Auferstehung des Körpers verzichten. Die Auferstehung ist auch nicht notwendig, um vor dem Herrgott beim Jüngsten Gericht zu erscheinen, wie uns die Kirchenlehrer gelehrt haben. Nein! Sogar Jesus Christus und alle anderen von Oben gesandten Propheten haben von dem  Tod gesprochen, der noch während dieses Lebens sich vollziehen kann, nämlich vom Tod jenes „Tyrannen“, von dem unsere Sklaverei während dieses Lebens herrührt und von der Befreiung, von der allein die erste und hauptsächlichste Befreiung des Menschen abhängt.

 

Wenn man alles zusammenfaßt, sowohl die Gedanken, die in der Vorlesung ausgeführt sind, wie auch was ich heute hinzugefügt habe, daß nämlich im allgemeinen Bestand der Menschen in der letzten Zeit ob der progressiv sich verschlimmernden von ihnen festgesetzten Verhältnisses ihres gewöhnlichen Lebens — hauptsächlich ob des falschen Erziehungssystems der heranwachsenden Generation — der im allgemeinen Bestand jener Menschen, die nicht eigens an sich gearbeitet haben, vorhandenen Eigenschaft vorkommen, die ich diesmal so nennen würde: „die-in-des-Menschen-Auffassung ganz-verdrehte- Widerspiegelung-der-Wirklichkeit“. Die Resultate des Denkens und Fühlens im Durchschnittsmenschen bringen es oft dahin, daß, wie man es ausdrücken kann, „eine-Mücke-zu-einem-Elefanten-wird-und-ein-Elefant-zu-einer-Mücke“.

 

Die Manifestierung dieser verderblichen Eigenschaft im allgemeinen Bestand der besagten Menschen verwirklicht sich besonders intensiv gerade während solcher Ereignisse wie Krieg, Revolution, Bürgerkrieg, Krisen und so weiter. Gerade während solcher Ereignisse manifestiert sich besonders schroff der sogar von ihnen selbst festgestellte Zustand, dessen Einfluß sie alle mit wenigen Ausnahmen verfallen und den sie „Massenpsychose“ nennen. Wo sind da der freie Wille und die Freiheit, die dann immer wieder beschworen werden?

 

Nur wenn ein Mensch sich von allen Illusionen befreit, alles was ihn daran hindert die Wirklichkeit zu sehen, all die Hoffnungen, Träume, Sorgen und Ängste – erst dann werden sein Streben, seine Ambitionen erlöschen und die Impulse in seiner Psyche werden zu einem Halt kommen und eine Leere wird entstehen.

 

Das ist der Tod des „Ichs“, des „Egos“, das Sterben von allem aus dem es bestand, dem Unechten, geboren aus Ignoranz und einem unbewußten Leben. Es bleibt als Material, aber es bildet nicht länger die Substanz des Menschen. Erst jetzt ist es möglich, wenn man genug Energie hat, neues Material zu sammeln, dieses Mal aber frei ausgewählt. Dann nimmt der Mensch das was er für sich braucht und ihm wird es nicht, wie vorher, von fremden Kräften eingeflößt. Das ist sehr schwierig, aber möglich.

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